Lesen macht kurzsichtig. Nicht mental, sondern optisch. Das ist bekannt, da hilft es auch nicht, die Nachttischlampe noch so hell zu drehen. Fernsehen und Computerarbeit gehen auch auf die Augen. Da nehmen sich die unterschiedlichen Darbietungsformen fremder Gedanken und Ideen nichts. Trotzdem ist es ein weit verbreiteter Glaube, Bücher lesen sei gut, fernsehen und vor dem Computer sitzen hingegen böse.
Warum eigentlich?
Bücher und Fernsehen haben beide eine betäubende Wirkung, beide lassen das Hier und Jetzt vergessen, um in eine fiktive, durch andere aufbereitete Welt und Sichtweise der Dinge einzutauchen. Bücher benötigen dabei etwas mehr kreative Phantasie, da ja Wörter in gedankliche Bilder oder in Stimmungen umgewandelt werden müssen. Trotzdem entzieht man sich, insbesondere mit belletristischer Literatur, zeitweilig komplett der Realität.
Das bewirkt auch das Fernsehen. Wer zu Tatort-Zeiten durch die Straßen wandert, sieht am synchronen Flimmern in den Fenstern, wie viele Menschen ihr Dasein und ihren Alltag temporär ausblenden, um sich in eine fiktive Geschichte zu begeben. Am interaktivsten ist da immer noch der Computer, da er nicht monologisch auf die Nutzer einwirkt, sondern ihnen eigene Gedanken und Taten abverlangt. Das kommt natürlich auf die Anwendungen an.
Warum nehmen Menschen Drogen?
Vielleicht wollen sie ihr Dasein und ihren Alltag ausblenden, wollen ihre Gefühlswelt durch eine andere ersetzen. Wollen albern sein, statt immer wieder an ihre Probleme denken zu müssen. Welche Gründe könnte es sonst geben, ein paar gepflegte Weine zu verköstigen oder einfach einen durchzuziehen?
Wer Glück und Freude im Normalzustand erlebt, der empfindet es doch als störend, wenn diese schönen Empfindungen durch den Einfluss von Drogen aufgeweicht werden oder verschwinden. Womöglich hat er am nächsten Tag gar einen Kater.
Gehen wir mal davon aus, dass Bücher, Fernseher, Computer und Drogen alle aus dem selben Bedürfnis angewendet werden – zeitweilig in eine andere Erlebnis- und Gefühlswelt zu entschwinden. Psychisch abhängig können alle diese Anwendungen machen. Und jede hat dabei ihre zusätzliche Kehrseite: Die Drogen haben (mit Ausnahme der Alkoholika) die gesellschaftliche Ächtung, in manchen Fällen die körperliche Sucht und den körperlichen Raubbau. Fernsehen, Bücher und Computer führen zu Bewegungsmangel und all den begleitenden physischen Erscheinungen, außerdem zur Verschlechterung des Sehvermögens, also auch zu körperlichem Raubbau.
Kann jemand überzeugend erklären, warum Bücher nicht böse sind, wenn die anderen Medienformen doch so oft als nachteilig für die Menschen angesehen werden?
Ganz früher gab es kein Fernsehen. Zu dieser Zeit waren manche Bücher und Schriften sehr geächtet. Dann kam das Fernsehen – und es war sehr schnell der Kasten des Bösen mit schlechtem Einfluss auf die Menschen. Dann kamen die Computer und das Internet, und es gab inzwischen fast eine Vollversorgung mit Fernsehgeräten. Plötzlich waren die Computer das Böse, Fernsehen wurde zwar auch hie und da kritisch gesehen, aber nie als Medium an sich in Frage gestellt. Schließlich haben auch die alten Menschen inzwischen den Fernseher akzeptiert in ihrem Lebensablauf. Fernsehen ist ein gemeinsamer Erlebnishorizont, Bücher sind das allemal. Computer und Internet hingegen werden von vielen Menschen weder verstanden noch selbstverständlich genutzt.
Also müssen sie offenbar die Wurzel des Übels sein, wenn etwas Übles auftaucht. Bei einer Diskussion in Frank Plasbergs „Hart aber fair“ ging es um Ballerspiele, nachdem wieder ein durchgeknallter Junge in seiner Schule rumgeballert hatte. Am Ende der Diskussion, die ja eigentlich nicht mit Deppen bestückt war, wurde ernsthaft die Frage gestellt, ob die Teilnehmer nicht für einen internetfreien Tag pro Woche seien. Keiner hatte irgendwas kapiert offenbar. Genauso hätte man fragen können, ob jeder für einen telefonfreien Tag pro Woche ist. Das hat mit Ballerspielen genau so viel zu tun.
Aber dafür waren sie sich sicher: Wenn die Kinder mehr lesen würden, käme es nicht zu solchen Auswüchsen. Die sollten sich mal umdrehen – was war denn damals los, als Goethe „Die Leiden des jungen Werther“ rausgedrückt hatte?
Da war eindeutig klar: Bücher sind böse!