Das Hysterie-Urteil

Es ist nicht so einfach, mal eben das zu verbieten, was ein Drittel der Bevölkerung täglich macht. Es ist auch nicht einfach, jeden Bürgern vor allen erdenklichen Risiken präventiv zu schützen, die er selbst gar nicht eingeht. Wie vor einstürzenden Turnhallendächern im Winter, vor unkonzentrierten Autofahrern, vor der Lautstärke spielender, lachender und zankender Kinder im Hof. All das könnte gesundheitsschädigende Folgen haben. Die Liste lässt sich beliebig verlängern.

Müsste man eigentlich verbieten und mit Bußgeldern versehen. Keine Öffnung von Turnhallen, wenn Schnee liegt, sonst Strafe. Verbot von Autofahrten, die nicht nachweislich dem Lebensunterhalt oder anderen zwingenden Notwendigkeiten dienen, die höher zu bewerten sind als das allgemeine Schutzrecht anderer Menschen, die durch das Auto und/oder seine Abgase geschädigt werden könnten. Kinder dürfen nur bis zu einer bestimmten Dezibel-Zahl zu fest definierten Zeiten orale Laute von sich geben. Sonst ist ein Bußgeld fällig. Im Wiederholungsfall droht eine Herausnahme aus der Familie, wie das heute schon häufig vorkommt, wenn die Eltern mal wieder nicht aufgeräumt haben.

Die, die das kontrollieren, sind die Ordnungsämter, früher hießen sie Blockwarte. Ein Heer von unterbezahlten armen Tropfen, die Tag für Tag, Stunde für Stunde, Strafzettel an Menschen verteilen, dafür, dass diese einfach nur so leben, wie sie das immer getan haben. Im Winter zum Ballspielen in die Turnhalle, die Beziehungsdiskussion am Steuer auf der Fahrt ins Grüne. Oder der immer wiederkehrende lautstarke Abzählreim der Kinder auf dem Hof.

Dann kommt es zur Frage der Verhältnismäßigkeit. Ist der Schutz der menschlichen Gesundheit höher zu bewerten als das Recht auf unkonzentrierte Spaßfahrten mit dem Auto ins Grüne? Diese Spritztour machen ja Menschen nur aus Spaß, zum Genuss. Oder aus Sucht, weil es PS-Junkies sind. Lärm, Feinstaub, Abgase, Verkehrstote, CO2. Durch Individualverkehr sterben aktiv wie passiv mehr Menschen als durch Rauchen. Aber was tut der Gesetzgeber?

Die plötzliche Rauchangst ist eine Hysterie, permanent medial angefeuert. Es wird eine Sau durchs Dorf getrieben, weil das in anderen Ländern ja auch so ist. Vor wenigen Jahrzehnten haben Bundestagsabgeordnete bei ihren Reden geraucht, Richter bestimmt auch im Richterzimmer. In Krankenhäusern, in U-Bahnen, Bussen, es wurde geraucht. Seither hat sich die Zahl der Raucher reduziert auf die Hälfte. Immer weniger gibt es – und auch immer weniger Passivrauch.
Trotzdem wird das Thema so hitzig diskutiert wie nie zuvor, die Gesellschaft wird mit einer Nebensächlichkeit gespalten.

Das jüngste Urteil der Bundesverfassungsgerichts ist ein Dokument dafür, wie durch gesellschaftliche Schaukämpfe Rechtssprechung immer undurchsetzbarer und damit auch beliebig wird. Deutlich wird das auch durch das abweichende Votum des Richters Johannes Masing. Im Gegensatz zu den anderen Richtern, die dem Gesetzgeber ein generelles Gastrorauchverbot geradezu in den Mund legen, hält Masing ein solches für verfassungswidrig. Und begründet dies:

„Der Gesetzgeber kann nicht im Verbotswege das gesellige Beisammensein und Feiern bei Tabak, Speise und Trank völlig aus dem öffentlichen Raum verbannen. Eine solche kompromisslose Untersagung wäre unverhältnismäßig und trüge die Gefahr paternalistischer Bevormundung. “

Habe ich heute eigentlich schon gegen ein Gesetz verstoßen? Vielleicht. Ich weiß es nicht, keiner kann es mehr wissen. Aber heute wird gefeiert. Da wird sich im Zweifel schon ein Vergehen finden.

Das staatliche Kind

Da irrt ein 7-Jähriger durch Berlin, fährt mit der U-Bahn von hier nach dort, keine Schuhe an den Füßen. Die Polizei greift den Jungen auf. Seine Mutter gibt an, mit ihm Streit gehabt zu haben. Er sei einfach abgehauen. Sie hatte wohl ordentlich Alkohol intus. Das war vorgestern.
Jetzt ist Ben weg. Weg von Mutter und Schwester. Das Jugendamt will in den nächsten Tagen entscheiden, ob Ben zu seiner Mutter zurück darf.

Jetzt gehört Ben dem Staat.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ihren Eltern gegen deren Willen durch staatliche Einrichtungen weggenommen wurden, ist in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Das meldet heute das Statistische Bundesamt. Wurden 2006 lediglich 151 Minderjährige Gegenstand einer „Herausnahme“, wie der Vorgang offiziell heißt, waren es in 2007 mit 435 fast drei Mal so viele.

Sind Eltern wirklich so schnell so dramatisch schlimmer und gefährlicher für ihre Kinder geworden? Oder hat sich etwa die öffentliche Einstellung verändert, was für Kinder schlimm und gefährlich sein könnte? Vor 30 Jahren gab es noch keine gewaltige Medienresonanz, wenn sich ein 14-Jähriger an der Parkbank mit Billigschnaps auf 2,5 Promille aufblähte. Auch war nichts zu hören von Kindern, die abgeholt wurden, weil die elterliche Wohnung vermüllt und schmutzig war. Jetzt greift der Staat ein. Manche sagen: Endlich. Denn Kinder sind ja Zukunft.

Alte sind hingegen Vergangenheit. Wenn die Sinne nachlassen und die Kräfte, vermüllen viele von ihnen in ihren Mietwohnungen. Sie irren oftmals verwahrlost durch die U-Bahnhöfe der Stadt mit kaputten Schuhen. Keine Polizeistreife greift sie auf. Wenn sie den Weg zurück in ihre Wohnung finden, sterben sie dort vielleicht. Und verwesen, bis die Nachbarn den Geruch nicht mehr aushalten.

Das ist Gegenwart.