Das staatliche Kind

Da irrt ein 7-Jähriger durch Berlin, fährt mit der U-Bahn von hier nach dort, keine Schuhe an den Füßen. Die Polizei greift den Jungen auf. Seine Mutter gibt an, mit ihm Streit gehabt zu haben. Er sei einfach abgehauen. Sie hatte wohl ordentlich Alkohol intus. Das war vorgestern.
Jetzt ist Ben weg. Weg von Mutter und Schwester. Das Jugendamt will in den nächsten Tagen entscheiden, ob Ben zu seiner Mutter zurück darf.

Jetzt gehört Ben dem Staat.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ihren Eltern gegen deren Willen durch staatliche Einrichtungen weggenommen wurden, ist in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Das meldet heute das Statistische Bundesamt. Wurden 2006 lediglich 151 Minderjährige Gegenstand einer „Herausnahme“, wie der Vorgang offiziell heißt, waren es in 2007 mit 435 fast drei Mal so viele.

Sind Eltern wirklich so schnell so dramatisch schlimmer und gefährlicher für ihre Kinder geworden? Oder hat sich etwa die öffentliche Einstellung verändert, was für Kinder schlimm und gefährlich sein könnte? Vor 30 Jahren gab es noch keine gewaltige Medienresonanz, wenn sich ein 14-Jähriger an der Parkbank mit Billigschnaps auf 2,5 Promille aufblähte. Auch war nichts zu hören von Kindern, die abgeholt wurden, weil die elterliche Wohnung vermüllt und schmutzig war. Jetzt greift der Staat ein. Manche sagen: Endlich. Denn Kinder sind ja Zukunft.

Alte sind hingegen Vergangenheit. Wenn die Sinne nachlassen und die Kräfte, vermüllen viele von ihnen in ihren Mietwohnungen. Sie irren oftmals verwahrlost durch die U-Bahnhöfe der Stadt mit kaputten Schuhen. Keine Polizeistreife greift sie auf. Wenn sie den Weg zurück in ihre Wohnung finden, sterben sie dort vielleicht. Und verwesen, bis die Nachbarn den Geruch nicht mehr aushalten.

Das ist Gegenwart.

Tote Jugend

  • Einer hat sich totgesoffen. 50 Tequilas heißt es. Über 4 Promille hatte er im Blut, als er eingeliefert wurde. Er war 16.
  • Gestern hat sich einer totgefahren. Mit 50 Sachen gegen einen Allee-Baum. Auf seinem Motoroller. Er war erst 17 und gleich tot.
  • Vorgestern wurde einer totgeschlagen. Er hatte versucht, einem anderen das Handy abzunehmen, dabei aber dessen Kumpels übersehen. Ein Schlag traf ihn versehentlich tötlich am Kopf. Er war erst 18, starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
  • Vor einigen Tagen wurde einer vom Zug erwischt. Er wollte besonders knapp die Schienen überqueren und damit seinen Freund beeindrucken. Er war zu langsam und wurde überrollt. Er war erst 15.
  • Vor drei Tagen stürzte ein Mädchen aus dem Fenster aus dem 5. Stock. Sie war unglücklich und wollte nicht mehr leben. Auch sie war gleich tot. Im Alter von 13 Jahren.

Das interessiert eigentlich alles nicht besonders, man geht nach einem standardisierten Ausdruck der Betroffenheit schnell wieder zu anderen Themen über. Diese Vorfälle gibt es seit Generationen.
Jetzt ist aber manches anders. Das Umfeld, in dem sich ein Jugendlicher totgesoffen hat, war eine Flatrate-Party. Jetzt müssen Regelungen, Strafen und Verbote her, denn diese Form des Alkoholausschanks ist ähnlich wie die Alkopops neuartig. Das ist kein kultureller Alkoholgenuss wie der in der Eckkneipe „Postklause“, in der ältere Männer zur Happy Hour vormittags um 10 Uhr reihenweise Biere mit Korn trinken, oder wie in intellektuellen Kreisen, in denen schon morgens nach dem Aufstehen ein besonders guter Rotwein mit Jahrgang getrunken wird. Das ist auch kein Oktoberfest, wo die Alkoholopfer auf Handwagen abtransportiert werden. Das ist auch nicht der Supermarkt, der einem mit 16 Jahren problemlos zwei Flaschen Tequilas für 14 Euro verkauft und damit jede Flatrate-Party unterbietet.

Schnapsleiche

Allerdings kann der kollabierte Jugendliche auf einen Flatrate-Party schnell gefunden und versorgt werden, die Jugendlichen, die wegen Verboten auf der versteckten Parkbank Saufexzesse vollziehen, müssen ohne Hilfe krepieren oder erfrieren.

Der Schluck

Gestern auf dem Weg zum U-Bahnhof Eisenacher Straße. Es ist 0:30 Uhr. Ein Radfahrer kommt von rechts, hält am orangenen Mülleimer, der an der Straßenlaterne befestigt ist. Wie so viele in den letzten Monaten, seit Trittins Einwegpfand gilt, schaut er in den Mülleimer, um vielleicht eine Flasche zu finden. Der junge Mann sieht nicht sonderlich abgeranzt aus, hat eine Lederjacke an. Er könnte auch aus einem durchschnittlichen Club kommen; schließlich ist ein solches Outfit durchaus angesagt.
Er hat Glück und sieht eine Flasche. Er nimmt sie aus der Mülltonne, setzt plötzlich an und nimmt einen Schluck. Dann packt er die Flasche in seine Tasche. Wenn er nicht vor mir gestanden hätte, ich hätte es nicht geglaubt. Das ist das Ende.