Kinderwahn

Als ich klein war, musste ich schon im zarten Alter von 4 1/2 jeden Tag über mehrere Kreuzungen alleine in den Kindergarten gehen. Später auf dem Schulweg in die erste Klasse hatte ich nicht nur mit meinem bleischweren Schulranzen zu kämpfen, sondern wurde auch von aggressiven Jugendlichen und einem klassischen Exhibitionisten mit Regenmantel und nix drunter heimgesucht. Einmal sprang mich sogar ein in meinen damalig kleinen Augen riesiger Boxer an.
Das ging anderen Kindern auf ihrem Schulweg ähnlich. Es gab damals viele Kinder.

Heute gibt es wenige Kinder. Heute werden die Jugendlichen teilweise noch im Alter von 14 von Eltern in die Schule gebracht und abgeholt. Heute haben die Kleinen einen Fahrradhelm auf, wenn sie auf dem Spielplatz von der Rutsche in den Zuckersand gleiten. Heute haben die Kinder für jede Altersgruppe eigene Autositze. Kinder bekommen Luxusgüter zugesteckt, die sie sich selbst frühestens nach mehrern Berufsjahren werden leisten können. Kinder sind Heiligtümer. Umso schlechter das Gewissen der Eltern ist (z.B. wg. Scheidung, ausufernder Berufstätigkeit oder weil sie sich die neueste Playstation nicht leisten können), umso stärker wird das Kind zur Gottheit erhoben.

Schließlich steigt auch die gesellschaftliche Repression auf die Eltern, wenn andere meinen, dem Zwerg sei nicht ausreichend gehuldigt worden oder durch kurze Abwesenheit der Eltern habe das Risiko eines Unfalls, einer Entführung oder eines anderen Unglücks bestanden.

helicopter parenting – auch dafür gibt es schon einen Begriff, wenn Eltern ihre Kinder auf Schritt und Tritt bis in deren hohes Alter überwachen. In der Süddeutschen Zeitung bezeichnet der amerikanische Pädagogikprofessor Richard Mullendore das dafür hilfreiche Handy als „längste Nabelschnur der Welt“.

Noch massiver als die Gluckenhaftigkeit der heutigen Eltern ist aber die Darstellung von Kinderschicksalen, -unglücken oder -missbrauch. Jeder durchschnittliche Moderator oder Schauspieler reist heutzutage nach Afrika, um sich umringt von süßesten schwarzen Kindern fotografieren zu lassen und dann eine Aktion für irgendwelche Kinder zu starten. Auf einem Straßenfest hier um die Ecke wurden letzte Woche Luftballons mit der Aufschrift „Jesus liebt Kinder“ verteilt. Was will uns das sagen? Liebt Jesus nur Kinder oder auch andere Menschen? Wie kann diese Form der Liebe verstanden werden in Zeiten, in denen hinter jeder Ecke ein Pädophiler vermutet wird, in der die Erwachsenen sich untereinander nicht mehr vertrauen, positiv auf Kinder einzuwirken?

Wenn der moralische Anspruch an Eltern so überzogen wird, wenn Kinder mit ihren Eltern machen können, was sie wollen, und diese sich nicht mehr wehren können, ohne die staatliche Repression zu erleben, können Erwartungsdruck und die Last der Aufgabe bestimmt auch dazu führen, dass Kinder in Babyklappen landen – oder im Extremfall auch in Blumenkästen.

Parallelgesellschaft 2.0: Die Kinder

Deutschland versteht seine Kinder nicht – und macht auch keine Anstalten, das zu wollen. Überall Parallelgesellschaften. Jetzt sind sogar unsere Kinder und Jugendlichen eine.

Beispiel „Killer-Spiele“: Die sind offenbar böse, weil sie in einer Maschine stattfinden, die Kinder und Jugendliche in der Regel besser verstehen als ihre Eltern. Laut Uschi von der Leine sollen jetzt nicht nur Spiele verboten werden, in denen virtuell Menschen getötet oder verletzt werden, es sollen auch andere Spiele verboten werden, in denen Gewalt überhaupt sichtbar ist.

Gewaltdarstellungen sollen die Jüngsten also künftig nur noch in passiven Medien erleben dürfen. In blutrünstigen Ausgaben von Tatort, in denen Angst, Vergewaltigung und Rohheit nicht selten sind, in Aktenzeichen XY, damit den Kindern auch der Schauer der Authentizität über den Rücken kriecht, in der nachmittäglichen Heute-Sendung, in der Menschen Sekunden vor ihrer Hinrichtung gezeigt werden, aber natürlich die unmittelbar Hinrichtung nicht. In der Tagesschau, in der Bombardements und Heckenschützen natürlich viel realistischer sind als in der neuesten Counter-Strike-Version.

Killer-Szene alt

Wer von den jetzt erwachsenen Klugscheißern hat nicht in seiner Kindheit im Sandkasten mit Plastikfiguren Cowboy und Indianer gespielt, wer hat nicht in den Karl-May-Filmen voller Faszination die Gemetzel zwischen vermeintlich Guten und Bösen gesehen? Wer hat nicht geflennt, als der manchmal schießwütige Winnetou in der dritten Folge unter Anteilnahme von eingängigen Geigen in den Armen seines „Bruders“ krepierte?

Killer-Szene  neu

Will man jetzt ernsthaft versuchen, diesen Teil der Welt auszublenden, zu verbieten? Gewalt ist doch ein maßgeblicher Teil unserer westlichen Kulturgeschichte. Und jetzt sollen wir so tun, als ob es die gar nicht gäbe.

In Frank Plasbergs „Hart aber fair“ ging es vor einigen Wochen um Killerspiele. Eingeladen war auch die nordrhein-westfälische Schulministerin Barbara Sommer (CDU). Sie offenbarte in der Sendung nebenbei, ohne selbst zu merken, welchen Offenbarungseid sie da leistete, dass sie sich für die Sendung sachkundig gemacht hatte, was eigentlich Counter-Strike sei. Die Schulministerin des größten deutschen Bundeslandes wusste also nicht, was Counter-Strike ist. Redet aber andauernd über Verbote.

Es ist eine Binsenweisheit, dass durch Verbote das Ausmaß gesellschaftlicher Probleme eher verdeckt und verschleiert wird, da die Aktivitäten in der Heimlichkeit stattfinden, dadurch aber auch viel spannender sind. Schließlich haben die Kinder so ein Geheimnis, etwas, das Mutti, Vati und die Lehrer nicht wissen dürfen. Wer nicht glaubt, dass das besonders reizvoll ist, der war offenbar selbst nie jung.

Was also tun?

Da es augenscheinlich nicht möglich ist, die Gewalt auf unserer Erde und in unserer Gesellschaft abzustellen, kann doch nur eine offene Auseinandersetzung damit helfen, Ausuferungen in den Köpfen einiger weiniger Jugendliche zu erkennen und ggf. zu beeinflussen.
Dazu müssen die Erwachsenen aber Counter-Strike kennen, Computer kennen, mit ihren pubertären Kindern zusammen die Gewaltspiele spielen, die ihre Kleinen zusammen mit Freunden spielen, virtuell töten, so wie die Guten das vor unseren Augen bei Karl May taten.

Töten Sie – jetzt!