Airbag reloaded

Morgens in der Nasszelle schmökere ich in einem trivialen Printprodukt und stoße auf die „wichtigsten Fragen zu den neuen Benimmregeln“. Unter Punkt 9 wird gefragt: „Wer geht zuerst die Treppe hoch, er oder sie?“ Ich überlege scharf.

Frauen Vortritt lassen, haben mich die Gender Mainstreamerinnen gelehrt. Positive Diskriminierung sei das – und erlaubt. Aber ich liege offenbar falsch, lerne ich im ersten Absatz der Begründung. Denn das war schon immer untersagt. Schließlich könnte der Mann dabei auf die Beine der Frau schauen, wenn diese nicht gerade unter einer modischen Burka versteckt sind.

Aber halt! Heute ist alles anders:

„Heute geht der Mann hinter der Frau die Treppe hinauf, um sie für den Fall, dass sie stolpert, auffangen zu können. Die Treppe hinunter ist es dann genau andersherum: Er geht vor, damit sie nicht auf die Stufen, sondern auf ihn fällt, falls sie stolpert.“

Der Mann als Airbag. Der Dron, der unter der übergewichtigen Dame zermalmt wird, weil sie nicht auf die Stufen guckt, während sie eine SMS tippt und gleichzeitig die Treppe heruntereilt.

Also lag ich doch richtig in der Nasszelle. Intuitiv korrekt gelöst. War gar nicht so einfach. Olli Kahn würde jetzt sagen: „Abputzen, weitermachen!“

Good Old Young

Eigentlich bin ich schon alt. Manchmal fühle ich mich auch so. Heute nicht. Heute war ich bei Neil Young (älter) mit 5000 Fans (meistens auch älter) in der Freilichtbühne der Spandauer Zitadelle (saualt).

Rechts und links stehen Männer mit ergrauten oder überwiegend verschwunden Haaren und schreiben sich jeden Titelname, den Young spielt, auf einen kleinen Zettel. Einer hat sogar einen Computerausdruck, eine Art Matrix, auf der die Autrittsorte und die Titelnamen eingetragen sind. Die Männer nicken bei wilden Gitarrensoli leicht, aber konzentriert mit dem Kopf. Vielleicht sind sie nach einer wilden Jugend Buchhalter geworden. Andere quatschen die ganze Zeit. Ist die Musik gerade lauter, brüllen sie.

Eine junge Frau reißt bei „Cortez the Killer“ ihr Nokia der drittletzten Generation hoch, um mit der Diktierfunktion die Ballade aufzunehmen. Da, wo Young vor 30 Jahren vielleicht noch Feuerzeuge (ja, die gab’s damals schon) aufblitzen sah, da blenden jetzt Fotohandy-Displays und verbotene Digicams. Voller Euphorie fotografieren da welche aus dem Dunklen ins Dunkle ohne Blitz und Auflösung. Verschwommene, grobpixelige Bilder, die spätestens am nächsten Tag dem Speicherplatz weichen müssen. Und das Nokia-Diktiergerät-Gekrächze will die süße Blonde sicher auch nicht wirklich hören. „Aber es war doch so schön“, rechtfertigt sie sich am nächsten Mittag beim Latte, wenn sich ihre Freundin das 12-Minuten-Gerausche komplett anhören muss.

Neil Young (nicht wirklich jung) macht keine Pause, spielt über zwei Stunden durch, immer in Aktion. Mal ruhiger. „Heart of Gold“ hört sich fast unverändert an wie damals auf „Harvest.“ Am Ende lässt er uns etwas verwirrt nach einer Cover-Version von „A Day In The Life“ zurück. Wie durch einen Trichter werden wir älteren Herrschaften dickflüssig durch das Festungstor der Zitadelle rausgedrückt.

Nach drei Stunden Stehen spüre ich dann schon die Beine. Ich bin also doch alt. Beim Rausgehen erzählt mir ein Freund, er ziehe für solche Konzerte immer Stützstrümpfe an. Das ist der Beweis: I’m young.

Drei Monate Ostfront

Martin Wilhelm Schumacher (1906-1944)
Martin Wilhelm Schumacher (1906-1944)
Erst 1950 wurde mein Großvater Martin Wilhelm Schumacher für tot erklärt. Er war Frontsoldat gewesen. Als Todeszeitpunkt wurde das Datum seines letzten Feldpostbriefes gewählt. Der 16. August 1944, kurz nach seinem 38. Geburtstag. Dieser letzte Brief kam aus einem Schützengraben an der Ostfront.

Vor einigen Jahren wurde bekannt, dass Willi in einem Kriegsgefangenenlager in der jetzigen Ukraine umkam. Wann genau und warum wird wohl nie geklärt werden.

Die hier dokumentierten Feldpostbriefe sind an meine Großmutter Anni und meine Mutter Monika gerichtet, die 1944 zwei Jahre alt war. Die Briefe beginnen mit der Abreise Richtung Ostfront. Zuvor kämpfte mein Großvater an der Westfront. Zwischen den beiden Fronteneinsätzen erfährt er, dass meine Großmutter einen anderen Mann hat. Auch wenn er es immer wieder versucht zu verdrängen, hinterlässt es doch eine große Wunde in seinem Herzen. Für wen und was liegt er jetzt tagelang im Dreck mit dem Tod vor Augen? Er ist ein gebrochener Mann und wird seine Familie nie wieder sehen.

Erster Brief: Abschied von Frau und Kind

Die Freunde von der Post

Haben Postler Freunde? Gibt es eine Chance, Freundschaft zu schließen, wenn man jemanden kennenlernt und plötzlich damit rausrückt, bei der Telekom zu arbeiten?

Offenbar nicht wirklich.

Jetzt hat T-Mobile ein Sozialisationsprogramm für die Mitarbeiter aufgelegt. Jeder Angestellte darf Freunden und Familienmitgliedern Rabatt-Coupons für die neuen iPhones und die damit verbundenen zweijährigen üppigen Tarife verteilen. Ganze 30 Rabatt-Codes hat jeder T-Mobile-Mitarbeiter zur Verfügung. Ganz bald haben sie alle bis zu 30 Freunde.

Während in anderen europäischen Ländern die Tarife zu den iPhones erheblich günstiger sind, scheinen hier der aufgestaute Druck durch die teils öffentlichen Herabwürdigungen von Postlern und die damit verbundene Minussymptomatik so ausgeprägt zu sein, dass dieser Ausdruck sozialer Fürsorge des Unternehmens bestimmt Linderung verschafft.

VielLeicht besser nicht

Ja, es gibt sie noch, die gute alte Zeitung. Vollgekippt mit Werbebeilagen, auf den Seiten Promi-Gezwitscher, viel Fleisch und Agenturmeldungen. Immer wieder ist Skurriles und Bedenkenswertes dabei. Heute meldet die Berliner Morgenpost, die der Berliner noch immer gerne „Motte“ nennt, auf Seite 6: „Fleischskandal in Bayern aufgedeckt“.

Wie? Jetzt auch Bayern? Seit da ein Protestant an der Macht ist, rauscht der Freistaat ab. Erst Transrapid in die Grütze – und jetzt auch noch Gammelfleisch. Ach nein, kein Gammelfleisch. Dort wurden Schlachtabfälle wie Rinderhäute als Lebensmittel verkauft. Staatsanwaltschaft und Lebensmittelprüfer verneinten eine Gesundheitsgefährung für die Verbraucher.
Worin besteht denn der Skandal, wenn doch nichts Ungesundes exportiert wurde? „In welches Bundesland die Fleischabfälle geliefert wurden, wollte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Memmingen nicht sagen“, schreibt die Motte. Na ja, war ja auch nicht schädlich.

Fleisch neu erfunden

Direkt neben dem shocking „Skandal“ eine ganzseitige EDEKA-Anzeige. In großen Lettern darauf: „Wir haben die Wurst neu erfunden.“ Daneben abgebildet ein Stück Formschinken mit der Message: „Weltneuheit! Unter 3% Fett.“ Wahnsinn, möchte man denken, wie haben die das geschafft? Welche Gewebereste das wohl sein mögen? Ganz einfach: „Herstellungsverfahren des Frauenhoferinstituts“. Und wir Idioten dachten immer, Wurst stamme von Tieren.
Und wie heißt die Marke, die so etwas möglich macht und vertreibt? Ein neuer Markenname ist am Konsumhimmel erstrahlt. Er wird sicher in die Geschichte eingehen:
VielLeicht

Grabpflege im Reichstag

Grab der Bevölkerung Im Lichthof des Reichstags ist dringend friedhofsgärtnerische Tätigkeit angesagt. Der große Grabstein scheint bald bis zur Unkenntlichkeit überwuchert zu sein. Ob diese Anregung aufgegriffen wird, ist hier per Webcam zu sehen.Vielleicht ist aber auch die Ruhezeit für das Grab aufgelaufen und bald wird dort etwas Neues beerdigt. Z.B. die Toleranz.

Angriff der Kindertöter

Kindertöter sind die großen, schweren, teuren, meist deutschen Autos, die von der Form oft einem Geländewagen ähneln, allerdings in der Regel keine anderen Umgebungen als Waschstraße und Teer kennen lernen. Kindertöter haben oft vorne ein Chrom-Gestänge, damit kleinere Unfälle nicht dem Lack schaden können.

Kleine Unfälle oder Unfälle mit Kleinen. Crashtests haben erwiesen, dass Unfälle mit diesen hohen Fahrzeugen für Kinder meist tötlich ausgehen. Natürlich nicht für die Kinder, die hinten so in den Römer Security Plus-Kinderschalensitz geschnallt sind, dass sie mit etwas Mühe noch den Kopf wenden können. Sondern für die anderen Kinder, die zum Beispiel ihrem Ball nachrennen, der auf die Straße hopst. Dabei werden die Kleinen in der Kopfgegend getroffen, was die Unfälle für sie auch bei niedrigen Geschwindigkeiten oft tödlich macht.
Kindertöter
Diese Fahrzeuge sorgen neben der unmittelbaren auch noch für die mittelbare Kindstötung. Durch übermäßigen Kohlendioxid-Ausstoß und gefräßigen Sprit-Konsum sorgen sie besonders intensiv für die Erderwärmung und die Reduktion der Öl-Reserven, womit eben die Kinder zu kämpfen haben werden, die nicht am Kopf getroffen wurden.

Vier von fünf Kindertötern sind inzwischen als Firmenwagen angemeldet, womit die Kindstötung sogar staatlich subventioniert wird.

Großstadtballade

Frau radelt mit Kleinkind
angeschnallt im Römer Jockey Relax-Sitz
mit dickem blauem Helm
Mutter nicht

Enge Straße
Autos wollen vorbei
Frau bekommt SMS
Will gucken
Übersieht Stein
Kippt mit dem Rad nach links

Auto trifft Frau
Am Kopf
Kopf plazt
Hirn quillt auf Asphalt
Kein Schrei
Nur kurzes Zucken

Kind unverletzt
Äußerlich
Lautes Schreien
Schönes Leben noch!